Plastiktüten in Winterthur

Ein Foto lockte ins Gewerbemuseum nach Winterthur: Plus-, Lidl- und Alditüten, aufgeblasen und angeordnet fast wie ein hochmittelalterliches Vortragekreuz. Das Motto:

Oh,

PLASTIK

sack!

Plastiktüten haben mich schon lange fasziniert, ich sammelte sie zeitweise sogar, bis ich ihrer Fülle nicht mehr Herrin wurde. Das wollte ich mir ansehen. Und so ein Besuch in Winterthur würde ja auch noch mehr Möglichkeiten bieten: beispielsweise die Sammlung Oskar Reinhardt am Römerholz zu besichtigen.

Meine Kollegin Doris war von meinem Vorhaben ebenfalls angetan, und zusammen brachen wir zu dieser besonderen Pilgerfahrt auf. Zuerst das Schwelgen: durch das Villenviertel von Winterthur erreicht man, umgeben von einem grossen Garten und altem Baumbestand, die pompöse Villa am Römerholz. Eine echte Direktorenvilla! Der Garten ist reich ausgestattet mit einer Treppenanlage am Weiher, mit Bronzeskulpturen vom Rodinschüler Antoine Bourdelle, von Renoir und anderen, aber alles wird übertroffen durch eine majestätische Blutbuche, die wohl Jahrhunderte alt sein muss.

Die Sammlung überwältigt mit einer Bilderflut, deren Schwerpunkt im späten 19. Jahrhundert liegt, beginnend mit zahlreichen Courbets, darunter auch ein echter Softporno, über viele Impressionisten – endlich sah ich eine Grenouillère von Renoir – bis zu Van Gogh-Gemälden und als Höhepunkt: zwei riesige Zeichnungen van Goghs. Das Sammlerleben wird reflektiert in einem Dokumentationsraum, der dieses geldschwere Milieu von unterschiedlichen Seiten beleuchtet.

Nach einer Stärkung im Museumscafé ging‘s dann vorbei an der aufgegebenen Haldengutbrauerei ins Zentrum, an dessen Peripherie das von Gottfried Semper geschaffene Stadthaus liegt. Die Podesttempel der Römer lassen grüssen! So sollte ein Stadthaus um 1865 eben aussehen. Eine Wartende, fast wie aus dem Prozess von Kafka, unterläuft im Innern etwas die antikische Strenge.

Bald war das Gewerbemuseum vis-à-vis der doppeltürmigen, mit wütenden Drachen bestückten Stadtkirche erreicht. Im Entrée flutete uns wie ein Wasserfall eine Installation aus blauen Ikeataschen entgegen (Ida-Marie Corell, ID(E)A, 2007) überhöht von dem besagten Kreuz (Iskender Yediler, ALDIPLUSLIDL, 1998) das seine Standhaftigkeit einem unablässig tätigen Gebläse verdankt.

Eine ganze Treppenwand war behängt mit regelmässig neben- und übereinandergereihten anthrazitfarbigen Plastiksäcken, die in abwechselnden Rhythmen aufgeblasen wurden – ein echtes Faszinosum, spannender als mancher Film (Nils Völker, eighty eight, 2012). In den Haupträumen begegnete man nicht nur einer vielfältigen Auswahl unterschiedlicher Gebrauchstüten wie Robidogs oder Wäschesäcken aus Hotels in aller Welt sowie den frühesten dieser Erzeugnisse überhaupt sowie auch aus Plastiktüten gefertigten oder damit geschmückten Objekten: Mosaike, Collagen, Kleider, Möbel bis hin zu einem grossen Environment über der Terrasse, das der Altstadtkulisse eine elfenhafte Leichtigkeit verlieh und gleichzeitig durch ihre Zerfetzbarkeit an die grosse Belastung der Umwelt durch dieses Material erinnerte.

Dieser Aspekt wurde auch sonst in der Ausstellung stark thematisiert, und die Vorstellung der Tausende von Tonnen im Meer verteilten Plastiks jagte einem kalte Schauder über den Rücken.

Eine begeisternde Entdeckung war der grosse helldurchfensterte Materialraum, der es erlaubt, mit Hilfe von Computerinformationen die unterschiedlichsten Materialien wie Glas, Holz oder Stein zu untersuchen und ihre Herkunft oder Herstellungsweise zu erkennen. Ein Museum für Regentage, Kindergeburtstage oder Schulklassen und alle, die es noch besser wissen wollen.